Schifffahrt und Kolonialismus – Eine Spurensuche in der Ausstellung POINTS OF VIEW
Welche Verbindungen gab es von den einstigen deutschen Pazifikkolonien nach Bremen? Wie geht die Bevölkerungsgruppe der Tolai auf Papua-Neuguinea heute mit dem Erbe des Kolonialismus um? Und wie hängen globale Schifffahrt und Kolonialismus miteinander zusammen? Antworten auf diese Fragen sucht derzeit die Ausstellung POINTS OF VIEW im Hafenmuseum Bremen, die auf Forschungsarbeiten des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte basiert. Umbaubedingt wird die Schau im Bremer Hafenmuseum gezeigt. Die Hansestadt war zudem die Heimat des Norddeutschen Lloyds. Die Reederei wurde dort 1857 gegründet.
Ein scharfer Schatten baut sich übermächtig an der Wand hinter dem imposanten Modell der PRINZ WALDEMAR auf, die Besuchende am Eingang der Ausstellung symbolisch auf eine Reise in die Südsee mitnimmt. Sie begeben sich auf eine Zeitreise, in eine Epoche, in der zahlreiche pazifische Inseln unter deutscher Herrschaft standen. Es ist der Schatten der deutschen Kolonialzeit, der unheilvoll die Ahnung auf Machtmissbrauch und Ausbeutung vorausschickt. Der Reichspostdampfer der Reederei Norddeutscher Lloyd (NDL), dessen Modell aus dem DSM-Depot stammt, zeigt exemplarisch, wie eng Kolonialismus und Schifffahrt in dieser Zeit miteinander zusammenhingen. Historische Karten mit einem dichten Liniennetz über die Ozeane verdeutlichen, dass die Welt durch Schiffe wie dieses immer dichter zusammenwuchs. Der Dampfer pendelte für den NDL regelmäßig zwischen Australien und Ostasien, versorgte die Kolonien und holte Tabak, getrocknetes Kokosnussfleisch, Baumwolle sowie Kautschuk. Die NDL-Schifffahrtslinien waren die Lebensadern der deutschen Kolonien im westlichen Pazifik und beeinflussten dort lebende Gruppen wie die Tolai nachhaltig.
Entstanden ist POINTS OF VIEW aus einem Forschungsprojekt zum Norddeutschen Lloyd. Seit 2018 tauschen sich Tobias Goebel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DSM mit Schwerpunkt Globalisierungs- und Kolonialgeschichte, und die in Australien lebende Tolai-Künstlerin und Forscherin Lisa Hilli über die deutsche Kolonialzeit im Westpazifik aus. Dabei gehen sie der Frage nach, wie sich der Ausbau von maritimer Infrastruktur auf das politische, soziale und wirtschaftliche Leben im Kolonialgebiet auswirkte und bis heute auswirkt. Bei der Aktenrecherche stießen sie auf die Biografien von Menschen, die anonym auf den Schiffen des NDL und der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft (DHPG, Hamburg) transportiert wurden und entschlüsselten deren Lebensumstände so gut wie möglich.
„Deutsche Reedereien wie der Norddeutsche Lloyd haben vom Kolonialismus stark profitiert. Das gehört zu den oftmals übersehenen Kapiteln hiesiger Schifffahrtsgeschichte“, sagt DSM-Direktorin Prof. Dr. Ruth Schilling. „Für uns als Deutsches Schifffahrtsmuseum gehört es zu einem verantwortungsvollen Umgang mit maritimem Erbe dazu, sich dieser Realität zu stellen. Unter den maritimen Museen in Europa zählen wir zu den ersten, die dieses sensible Thema aufgegriffen haben. Globale Schifffahrt hat das Meer zu einem Spielfeld politischer und wirtschaftlicher Interessen gemacht. Die Ausstellung POINTS OF VIEW zeigt dies an einem konkreten Beispiel auf.“
Obwohl POINTS OF VIEW ein schwieriges Erbe thematisiert, versteht die Ausstellung die jeweiligen Ansätze aus Kunst und Wissenschaft bewusst nicht als gegenseitigen Kommentar. Anstatt ein Richtig oder Falsch anzubieten ist die Idee, unterschiedliche Perspektiven auf den Kolonialismus zu zeigen – die auch überraschen können und Besucher:innen zum Dialog einladen. „Mir kam es vor allem darauf an, die Verbindungen des deutschen Kolonialismus nach Bremen kenntlich zu machen“, sagt Tobias Goebel. „Außerdem wollte ich Menschen exemplarisch sichtbar machen, die hinter den kolonialen Systemen standen, also sowohl die europäischen als auch die pazifischen Akteure.“
Wer durch den Raum streift, steht zunächst vor großformatigen Originalaufnahmen, die von Bord eines der NDL-Schiffe gemacht wurden. Aus dem Blickwinkel der Kolonisatoren schauen Betrachtende auf die europäischen Agenturen, über die der Warentransport nach Europa abgewickelt wurde. Dem gegenüber zeigt eine weitere Fotografie Einheimische, wie sie Personen verabschieden, die von einem Boot zum Arbeitsdienst abgeholt werden. Von Tobias Goebel geschriebene Textfragmente erzählen beispielsweise von Tolai-Angehörigen, die mit den Kolonialisten Verträge schlossen und Tauschhandel trieben oder von anderen, die von den Plantagen flohen.
Lisa Hilli will mit ihren Objekten vor allem auf das Schicksal melanesischer Frauen hinweisen. Sie zeigt Fotos, Installationen, Collagen und Schmuck aus Muscheln, den sie nach traditioneller Weise erstellt hat. „Meine Kreativität speist sich daraus, tief in Archive einzutauchen, biografischen Erzählungen meiner Interviewpartner:innen zu lauschen – in einer Art Zustand des Wachtraumes“, sagt sie. „Ich möchte Individuen und Gesellschaften stärken, deren Geschichten und Wissen übersehen werden und sie ermutigen, all dies auf ihre ganz eigene Weise zu teilen.“
Die Ausstellung ist bis 18. August 2024 im Hafenmuseum Bremen zu sehen und bietet ein umfangreiches Begleitprogramm. Die Termine sind unter www.dsm.museum/kalender zu finden.
Tobias Goebel vor dem Schiffsmodell der PRINZ WALDEMAR. Credit: DSM / Annica Müllenberg
Fotografie und Kunst von Lisa Hilli. Credit: DSM / Annica Müllenberg