Halbmodelle von Schiffen virtuell erlebbar
Schiffsmittwoch - neue Halbmodelle zur Mitte der Woche
Außergewöhnliche Situationen wie die Corona-Pandemie stellen Museen vor neue Herausforderungen, digitale Angebote werden immer wichtiger. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) /Leibniz-Institut für Maritime Geschichte arbeitet daran, Objekte und Ausstellungen digital zu gestalten. Nun gewährt das Haus Interessierten einen Blick auf neu gescannte Halbmodelle von Schiffen. Die digitalen Exponate erzählen spannende Geschichten über den Schiffbau um 1900. Wie gestaltete sich die Digitalisierung der Halbmodelle und was für Geschichten verbergen sich dahinter?
Dennis Niewerth ist wissenschaftlicher Referent für Digital History und Digital Heritage am DSM. Als Projektleiter hat er die Digitalisierung von Halbmodellen der Junge-Werft am DSM vorangetrieben. Grundlage dafür war der etwa 60-teilige, zusammenhängende Bestand der Schiffswerft, die von 1859 bis 1918 als Familienunternehmen in Wewelsfleth an der Stör betrieben wurde. Auf der Werft wurden überwiegend kleinere Frachtschiffe, Fischerei- und Dienstfahrzeuge gebaut.
Bei den Halbmodellen handelt es sich um technische Arbeitsmodelle.Sie dienten den Schiffbauern als Hilfsmittel für die Fertigung des realen Schiffes. Die Halbmodelle sind aus Holz und bestehen aus einer Grundplatte, auf der sich ein längs aufgeschnittener Schiffsrumpf befindet. Sie geben Einblicke in den damaligen schiffbautechnischen Wissensstand und schiffbautechnische Innovationen im Kleinschiffbau.
Teil der Digitalisierungsstrategie des DSMs ist es, Objekte aus dem Sammlungsbestand so zu erfassen, dass sie dreidimensional erfahrbar werden. Prof. Dr. Ruth Schilling, wissenschaftliche Ausstellungs- und Forschungskoordinatorin am DSM, hält das für ausgesprochen wichtig: „Wir befinden uns im digitalen Zeitalter. Museen als Teil dieser Gesellschaft müssen reflektieren, wie sie ihre Ausstellungen von rein analogen zu hybriden Ausstellungsformen mit realen und virtuellen Objekten neu denken.“ Die am DSM digitalisierten Halbmodelle sind insofern ein Anfang, den Sammlungsbestand außerhalb des Ausstellungsbereichs sichtbar zu machen.
Mit einer Photogrammetrie-Software gelang es Dennis Niewerths Arbeitsgruppe, aus zweidimensionalen Bildern 3D-Modelle zu erstellen. Zuerst machten sie mit einer Kamera Bildaufnahmen, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven einmal rund um das Modell erfassten. In einem weiteren Schritt wurden die Fotoserien in das Photogrammetrie-Programm eingespeist, welche sich aus dem Bildmaterial bestimmte Merkmale, sogenannte Features, herausfiltert. Je mehr solcher Unregelmäßigkeiten im Bild sind, desto besser kann die Software berechnen, wo sich die Kamera im Verhältnis zum Gegenstand befunden hat. Das ist entscheidend für die 3D-Digitalisierung. In mehrstündiger Rechenarbeit durch zwei weitere Arbeitsprozesse entsteht aus einem Muster vieler kleiner Dreiecke schließlich ein dreidimensionales Modell. Mithilfe einer 3D-Browserumgebung, die Tobias Fiedler, ehemalige studentische Hilfskraft am DSM, entwickelt hat, werden diese jetzt virtuell erfahrbar. Vorteil der Webformate, wie auch bei einer zukünftigen Einbindung der Digitalisate in der Dauerausstellung am DSM ist, dass diese mit einem viel umfassenderen Blick betrachtet werden können.
Die wissenschaftliche Kuratorin Dr. Marleen von Bargen und die studentische Hilfskraft Deike Reddig haben sich intensiv mit den Geschichten hinter den Halbmodellen beschäftigt. Dabei konnten sie auf Forschungen des Schifffahrtshistorikers Herbert Karting zurückgreifen. „Das war richtige Detektivarbeit“, sagt Reddig. Viele Schiffe hießen damals entweder Mathilde oder Margarete, deshalb musste schon ein sehr genauer Blick in die Schiffsregister geworfen werden. Die Geschichte eines Schiffes ist dann mitunter von Anfang bis Ende nachvollziehbar. „Einige Schiffe, die von der Werft stammen, haben spannende Lebensläufe“, betont von Bargen. Manche von ihnen erlitten Schiffbruch oder galten als vermisst. Wieder andere sollten im Zweiten Weltkrieg eingesetzt werden. So manches Schiff hatte aber auch eine jahrzehntelange Karriere als Frachtschiff mit vielen Umbauten und Modernisierungen hinter sich, bis es abgewrackt wurde.
Die Halbmodelle zeigen daher nicht allein etwas über schiffbautechnische Aspekte und Entwicklungen, sondern berühren größere Zusammenhänge. Die Biografien einzelner Schiffe erzählen beispielhaft, wie vielseitig Schiffe als Arbeits- und Wirtschaftsgrundlage in der maritimen Lebenswelt eingesetzt worden sind. Mit dieser Vielschichtigkeit sind die Halbmodelle nicht nur für shiplover und generell schiffbaubegeisterte Besucher*innen interessant. Auch allgemein kulturbegeisterten Menschen bietet das Thema spannende Einblicke, zeigen die Modelle doch mit einem Blick, dass Schiffe viel mehr sind als einfache Wasserfahrzeuge, sondern Zugänge zur Rolle des Ozeans als Erfahrungs-, Erinnerungs- und auch als Innovationsraum bieten.