Erster deutscher Gezeitenrechner nimmt Betrieb auf
Die Restaurierung des ersten deutschen Gezeitenrechners ist abgeschlossen. Dank modernster Methodik funktioniert das 105-jährige Meisterwerk der Mechanik aus der Kaiserzeit wieder und soll regelmäßig öffentlich in Betrieb gesetzt werden.
Es ist ein Exponat der Superlative – der Gezeitenrechner: Er ist der älteste seiner Art in Deutschland und kann ebenso als einer der ersten analogen Computer bezeichnet werden. Nur drei stationäre Gezeitenrechner wurden überhaupt in Deutschland gefertigt. Insgesamt wurden weltweit über einen Zeitraum von fast 100 Jahren weniger als dreißig jemals gebaut. Von denen, die erhalten blieben, sind nur wenige öffentlich zugänglich. Umso mehr freut sich das DSM, dass gleich zwei dieser Schätze zur Sammlung gehören – das Modell aus dem Jahr 1915 und ein weiteres aus der DDR.
Mit seinen vielen Zahnrädchen und kreisrunden Tidengetrieben behauptet sich der Gezeitenrechner als imposante Erscheinung inmitten der übrigen Objekte der SEA CHANGES-Ausstellung. Die Silber- und Messingkomponenten lassen auf eine lange Historie schließen. Doch nicht nur die Optik ist ein Highlight, die aufwändige Methode, die Restaurator Tim Lücke erstmals nutzte, passt ebenfalls in die Kategorie „besonders“. Lücke, der im Mai 2019 mit den Arbeiten begann, griff auf die Trockeneisstrahlung zurück, um das Innere des Geräts zu säubern. Es handelt sich um eine schonende und gleichzeitig zeitsparende Methode, die in der Restaurierung bisher selten angewandt wurde. Mithilfe von Pellets aus gefrorenem Kohlenstoffdioxid konnten selbst Kleinstteile im Inneren der Maschine gereinigt werden, ohne dass größere Ausbauten am Getriebe nötig waren. Dazu musste die Maschine kurzzeitig in den Außenbereich des Museums gebracht werden. Beim Arbeitsprozess in der Ausstellungshalle konnten interessierte Museumsgäste Tim Lücke über die Schulter schauen. Ein online verfügbarer Film dokumentiert die Restaurierung im Museum im Zeitraffer.
„Weil es sich um eine bisher selten angewandte Methode handelt, ist das Projekt auch aus restauratorischer Perspektive sehr spannend, wir sind froh, dass wir mit Tim Lücke einen erfahrenen Experten fanden, der die Trockeneisreinigung im DSM erstmalig in dieser Form anwandte“, sagt Martin Weiss, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DSM. Der Gezeitenrechner werde in Zukunft regelmäßig in Betrieb gesetzt, damit die Getriebe nicht wieder verharzen. Im kommenden Jahr passiere das auch öffentlich unter den Blicken des Publikums. Eine eigens dafür in Auftrag gegebene Vitrine, hinter der die Schauvorführungen perspektivisch stattfinden, wird bis Anfang nächsten Jahres angefertigt.
Möglich wurde die Restaurierung durch großzügige Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Deutschen Stiftungszentrums, des Fördervereins Deutsches Schifffahrtsmuseum e.V. und privaten Spender*Innen.
Geschichte des Gezeitenrechners
Als im 19. Jahrhundert die Dampfschifffahrt aufkam und Fahrtzeiten dadurch viel weniger vom Wetter abhängig waren, wurde es unerlässlich, Wasserstände in Häfen genau vorhersagen zu können. Der Engländer William Thomson, später bekannt als Lord Kelvin, konstruierte 1872 den Prototyp eines Gezeitenrechners. In den folgenden Jahrzehnten wurde das Grundprinzip nie verändert, aber optimiert. Als der Erste Weltkrieg begann, sahen sich die deutschen Hydrographen gezwungen, das erste eigene Modell zu bauen, das 1915 am Marineobservatorium in Wilhelmshaven in Betrieb ging.
Nachdem dieser Prototyp in den 1930ern mit einem elektrischen Druckwerk ausgestattet wurde, gelangte er im Zweiten Weltkrieg vermutlich nach Greifswald und von dort aus an das Deutsche Hydrographische Institut in Hamburg. 1975 wurde er dem damals neu gegründeten Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven übergeben, wo er seitdem in der Ausstellung zu sehen ist – und nun zum ersten Mal auch in Betrieb.
Martin Weiß (l.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter, und Tim Lücke, Restaurator.
Foto: DSM / Müllenberg