Ein Fenster in die Geschichte der Forschungsschifffahrt
– Gemeinsame Pressemitteilung des Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte und des GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung Kiel –
Bremerhaven/Kiel. Fast 100 Jahre nach der Deutschen Atlantischen Expedition mit dem Forschungsschiff METEOR I übernimmt das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte Original-Aufnahmen der Reise als Schenkung vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Die auf Glasplatten und fotografischem Film vorliegenden Negative werden nun digitalisiert und als Teil der Dauerausstellung im Museum präsentiert. Sie eröffnen direkte Einblicke in die Geschichte der Forschungsschifffahrt.
Zwölf unscheinbare Holzkästchen stehen neuerdings in der Studierzone des Forschungsdepots. Sie bergen eine kleine Sensation. DSM-Kuratorin Dr. Ulrike Heine streift Handschuhe über, öffnet andächtig ein Kästchen und entnimmt ein dünnes Papierbriefchen. Vorsichtig zieht sie daraus eine Glasplatte und hält diese gegen das Licht. In der leicht verschwommenen Miniatur-Szene sind Männer – offensichtlich bei schwerem Seegang – mit Messgeräten an Bord der METEOR I zu sehen. „Das Forschungsschiff METEOR war von 1925 bis 1927 für eine der bedeutendsten Expeditionen des 20. Jahrhundert unterwegs: die Deutsche Atlantische Expedition“, weiß Heine. Während der 777 Reisetage überquerte die wissenschaftliche Crew 14 Mal den Südatlantik, führte 67.000 Echolotungen durch und mehr als 1000 Ballon- und Drachenaufstiege. Die Nachwelt verdankt der ozeanografischen Unternehmung das erste Tiefenprofil des mittelatlantischen Rückens – eines untermeerischen Gebirgszugs – und eine Kartografie des Südatlantiks.
Für das DSM ist das fotografische Konvolut ein wertvolles Kulturgut, ein direktes Fenster in die Geschichte der Forschungsschifffahrt. „Heute gibt es Live-Schaltungen auf Forschungsschiffe und Updates auf Social-Media-Kanälen. Damals waren es Fotografien und erste Bewegtbilder, mit denen öffentlich finanzierte Expeditionen dokumentiert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Wir schauen hier auf wichtige Meilensteine der Wissenschaftskommunikation im Bereich der Meeresforschung“, so Heine. Die 1400 Negative auf Glasplatten und fotografischem Film zeigen nun das Leben an Bord, den Einsatz der damals neuen Messtechnik und die Landgänge von Crew und Forschenden. Die Fotografien stammen von den Wissenschaftlern und einigen höherrangigen Crewmitgliedern selbst. Sie dokumentierten Abläufe an Bord akribisch und schufen damit wichtige Dokumente dieser Expedition.
Die Fahrt der METEOR I war auf doppelte Weise geschichtsträchtig: wissenschaftlich, weil der Übergang von der beschreibenden zur physikalischen Meereskunde sichtbar wird und politisch, weil die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg mit der Expedition wieder international in Erscheinung treten wollte. Die METEOR I ging in ehemaligen deutschen Kolonien in Westafrika vor Anker und fuhr Gebiete in Südamerika an, in denen Auslandsdeutsche lebten. Auch die Landgänge wurden von den Laienfotografen ausgiebig dokumentiert. „Auf diese Weise reflektieren die Fotografien auch kolonialrevisionistische Bestrebungen der Weimarer Republik“, so die Historikerin und Direktorin des DSM, Prof. Dr. Ruth Schilling.
Bevor die Holzkästchen ans DSM kamen, befanden sie sich vermutlich seit Mitte der 40er Jahre in Kiel. Dort wurden ein Kurzinventar angelegt und einzelne Bilder für Veröffentlichungen genutzt. Mit der Übernahme als Schenkung kann das DSM nun die Fotografien digitalisieren, öffentlich zugänglich machen und im neuen Forschungsdepot fachgerecht lagern.
Für die Museumskuratorin Heine ist nun detektivischer Spürsinn gefragt: „Ich möchte herausfinden, nach welchen Vorgaben fotografiert wurde, ob das akribisch beschriftete Konvolut vollständig ist und wie die Kästchen nach Kiel kamen.“ Die Vermutung: Der deutsche Ozeanograph Georg Wüst (1890-1977), dessen Name in altdeutscher Schreibschrift auf einem der Kästchen steht, fuhr auf der METEOR I mit und übernahm an Bord die Leitung der ozeanographischen Arbeiten. Nach der Expedition wertete er am Institut für Meereskunde in Berlin die Daten aus. Als die Berliner Einrichtung während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde, nahm der Forscher die Bildträger vermutlich mit in die Ostseestadt ins Institut für Meereskunde an der Universität Kiel, einer der Einrichtungen, aus denen später das heutige GEOMAR entstand.
„Ich bin sehr dankbar, dass diese kostbaren historischen Dokumente von Fachleuten bestmöglich erschlossen und erhalten werden“, sagt Prof. Dr. Katja Matthes, Direktorin des GEOMAR. „Nicht nur uns, die wir heute auf modernsten Schiffen mit modernsten Instrumenten den Ozean weiter entdecken und erkunden, versprechen diese Aufnahmen spannende Einblicke in das Leben und wissenschaftliche Arbeiten an Bord. Es sind auch wichtige Zeugnisse, die nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen und der Kieler Meeresforschung verlangen“, so Matthes.
„Die Fotografien stellen eine bedeutende Ergänzung für den Bereich der Forschungsschifffahrt dar, der in unserer Sammlung eine außerordentlich wichtige Rolle spielt “, betont DSM-Direktorin Schilling. Die originalen Tagebücher des METEOR-Kapitäns Fritz Spieß, ein Modell des Schiffs, sowie ein umfangreiches Fotoalbum und ein Inventarbuch der Expedition gehören dem Museum bereits. „Im Inventarbuch ist die komplette Ausrüstung bis zur Fototechnik dokumentiert, das lässt viele Rückschlüsse auf die Glasplatten und Aufnahmen zu“, erläutert die promovierte Kulturwissenschaftlerin Heine, die sich bereits in früheren Projekten schwerpunktmäßig mit Fotografiegeschichte beschäftigte. Ein Konvolut von der Tiefseeexpedition der VALDIVA aus den Jahren 1898-99 befindet sich in der Sammlung des Museums für Naturkunde in Berlin. Mit den Kolleg:innen in Berlin herrscht reger Austausch zu Fragen der Lagerung, Konservierung und Digitalisierung der Glasplatten. Mit der Erschließung der METEOR-Fotografien wird an die Forschung zur Deutschen Atlantischen Expedition am DSM angeknüpft, die auf eine längere Tradition zurückblickt.
Ein wichtiger Teil der METEOR-Fotografien wird in digitaler Form gemeinsam mit dem Kapitänstagebuch in der neuen Dauerausstellung zu sehen sein. Spätestens 2025 wird sich die Öffentlichkeit besonders für diese Dokumente interessieren. Dann liegt die Expedition, die wichtige Grundlagen für die Atlantikforschung lieferte, genau 100 Jahre zurück.
METEOR schräg von vorn, 1926. Sammlung Deutsches Schifffahrtsmuseum.
Fotomotiv: Otto Freiherr von Recum
Gefreiter Runge u. Gefreiter Hoefer beim Titrieren im Zeichensaal, 1926. Sammlung Deutsches Schifffahrtsmuseum
Fotomotiv: Georg Wüst
Dr. Ulrike Heine schaut die Glasplatten der Deutschen Atlantischen Expedition an.
Foto: DSM / Annica Müllenberg
Dr. Ulrike Heine blättert im Inventarbuch der Deutschen Atlantischen Expedition, für die die METEOR 1925 in See stach.
Foto: DSM / Annica Müllenberg
Zwölf unscheinbare Holzkästchen standen lange im Geomar in Kiel, jetzt sind sie dem DSM überlassen worden.
Credit: DSM / Annica Müllenberg
Beginn der Drahtlotung an vorderer Lukas-Lotmaschine: Ausfieren der Stoßröhre, 1926 Sammlung Deutsches Schifffahrtsmuseum
Fotomotiv: Georg Wüst