Maritime digitale Zwillinge
Maritime digitale Zwillinge. Regime der Infrastrukturkontrolle und neue Modi der digitalen Geschichtsschreibung?
"There is no doubt that the digital twin is the future" – solche und ähnliche Behauptungen aus dem Bereich der ingenieur- und naturwissenschaftlichen Forschung & Entwicklung bedienen sicherlich einen epistemologisch meist unkritischen und wenig reflektierten Hype. Kein Wunder, dass Autoren wie Michael Batty die Klischeehaftigkeit des Konzepts des digitalen Zwillings längst umfassend dekonstruiert haben.
Abseits der erkenntnistheoretischen Diskussion von Modellkonzepten können digitale Zwillinge aber durchaus als eine Form der Intensivierung älterer Ansätze verstanden werden: Ein digitaler Zwilling umfasst sowohl die Hardware zur Erfassung und Verarbeitung von Daten als auch die Software zur Darstellung und Manipulation dieser Daten. Digitale Zwillinge sind leistungsfähiger als Modelle und Simulationen, weil sie digitale Datenströme nutzen, um die Barriere zwischen der physischen Einheit und ihrer Darstellung zu überbrücken. Digitale Zwillinge sind nicht auf "historische" Daten beschränkt, sondern können auch mit Echtzeit-Datenströmen angereichert werden. Dieses "Mehr" an Datenströmen führt dann zu "direkteren" Rückkopplungsmöglichkeiten – ein Paradox, das in der Medienwissenschaft schon oft angesprochen wurde.
Im Bereich des Schiffsdesigns kommt dieser Ansatz zunehmend zum Tragen. Digitale Zwillinge manifestieren sich dabei als drei miteinander verknüpfte, aber spezifische „environing technologies“ (Sörlin/Wormbs 2018): Erstens werden Schiffsbrückensimulatoren - eine gängige physische Zwillingsumgebung, die seit den 1960er Jahren vor allem für Ausbildungs- und Trainingszwecke genutzt wird - heute durch digitale Komponenten wie VR-Tools und Körpersensoren, die an den Auszubildenden angebracht werden, erweitert und verändert. Zweitens verändern digitale Zwillinge von ganzen Schiffen das Design: Digitale Zwillinge können hier als eine umgebende Technologie verstanden werden, die hydrodynamische Eigenschaften und deren Modellierung durch Computational Fluid Dynamics (CFD)-Simulationen noch enger mit dem Schiffsdesign verbindet. Die Möglichkeit, die hydrodynamischen Eigenschaften von Schiffen in Originalgröße mit Hilfe von Hochleistungsrechnern in Computersimulationsmodellen sehr detailliert zu berechnen, bringt Computersimulationen, klassische Modelle und das schließlich gebaute "echte" Schiff in ein vielschichtiges und im Vergleich zu früheren Entwurfsansätzen verschobenes Verhältnis - möglicherweise mit ähnlichen Folgen wie das Aufkommen von maßstabsgetreuen Modellen im späten 18. Jahrhundert, wie Simon Schaffer beschrieben hat. Und drittens verbinden die neueren maritimen "Ship Lifecycle Twin"-Systeme diese bereits komplexen Bauprozesse mit der Betriebssteuerung, der Überwachung und der Instandhaltung eines Schiffes, dem Flottenmanagement des Schiffseigners und schließlich mit der Außerdienststellung des Schiffes. Im Hinblick auf diese verschiedenen Formen maritimer digitaler Zwillinge befasst sich meine Forschung mit der Vorstellung - oder genauer: dem Phantasma - von umfassender Computersteuerung und Kontrollierbarkeit, die im Konzept des Digitalen Zwillings wiederbelebt wird.
Digitale Zwillinge besetzen aber auch Forschungsfelder wie Digitale Geschichte und Historiographie oder Cultural Heritage Studies und Archäologie. Meine Forschung berührt daher auch neuartige "digital-forensische" Methoden und Medien: Die Initiative "Forensic Oceanography" setzte beispielsweise computergestützte Werkzeuge ein, um aus Wellenbewegungsmustern Rückschlüsse auf bestimmte Schiffsmanöver zu ziehen, und versuchte, solche Daten zur juristischen Bekämpfung illegaler Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge im Mittelmeer zu nutzen. Auf einer erkenntnistheoretischen Ebene kann der Ansatz der Forensischen Ozeanographie somit als eine Form der "synthetischen Geschichte" (Claus Pias 2001) oder "Retrosimulation" betrachtet werden, die vergangene Ereignisse aus verschiedenen Datenspuren (re)konstruiert. Und nicht zuletzt versucht mein Forschungsprojekt, die Möglichkeitsbedingungen des "Imports" von Konzepten (und Hypes) Digitaler Zwillinge auch in Kulturerbe- und Museumskontexte kritisch zu untersuchen, z.B. im Hinblick auf die Produktion hochauflösender, funktionaler digitaler 3D-Objekte. Dies wird besonders dort interessant, wo man es mit Objekten zu tun hat, die selbst einer Medien- und Technikgeschichte des ‚Twinnings‘ zu zurechnen sind: Mein Forschungsprojekt nimmt hierzu besonders Bezug auf die Sammlung von Gezeitenrechnern des DSM.
Kontakt
Prof. Dr. Sebastian Vehlken
S.Vehlken@dsm.museum