Objekt des Monats: Kopiergerät, Garderobe, Hygieneset - das Schreibpult des Georg Friedrich Averdieck (1774-1839)
In der Reihe "Archivalie des Monats" stellt das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte monatlich einen besonderen Schatz aus dem Archiv vor. Im April stellt die DSM-Direktorin Prof. Dr. Ruth Schilling anlässlich des Tags der Sekretärinnen und Sekretäre am 12. April den Schreibpult von Georg Friedrich Averdieck aus dem 18. Jahrhunderts vor. Man könnte das hölzerne Behältnis mit den Schreibutensilien auch als einen der ersten Laptops bezeichnen. Dank seines Inhalts diente es universal als Arbeitsplatz, Kopiergerät, Garderobe und Hygieneset.
Zwei Tintenfässer, eine Kurbel für eine Kopierpresse, zwei kleine Salbentöpfe aus Elfenbein, ein großer Salbentopf aus Metall mit weiterem Inhalt, ein Stempel, drei Rasiermesser, zwei Haken, ein Messerleder, ein Lineal aus Elfenbein, vier Feilen aus Elfenbein, zwei Schuhknöpfer, sechs Nagelreiniger aus Metall und Elfenbein sowie eine weitere Nagelfeile und -schere: Das ist der Inhalt eines 15 Kilogramm schweren und 45,7 cm langen, 27,7 cm breiten und 16,5 cm hohen Schreibpults, das laut familiärer Überlieferung dem Hamburger Kaufmann Georg Friedrich Averdieck gehört haben soll.
Georg Friedrich Averdiecks Vater war Hamburger Leinenmakler gewesen, das heißt, er handelte mit Textilien. Der junge Georg Friedrich wurde bereits mit 25 Jahren im Auftrag der Hamburger Reederei Benecke und Müller nach Santo Domingo gesandt. An Bord der dänischen Brigg FORTUNA war er als Supercargo für die Beaufsichtigung der Ladung bei Hin- und Rückreise zuständig, eine Aufgabe, der Georg Friedrich Averdieck äußerst gewissenhaft nachging. Dies können wir in einem ebenfalls familiär überlieferten Reisebericht nachlesen, der von dieser denkwürdigen Fahrt überliefert worden ist. Dort beschreibt Averdieck beispielsweise, wie er vor der Abfahrt aus Santo Domingo nachts die Fracht- und Zollpapiere prüft:
"Nach einer Stunde stand ich wieder auf und ging in der heiteren mondhellen Nacht so lange auf dem Balkon spazieren, bis der Tag anbrach. Wie es nur so helle war, dass ich draußen eben lesen konnte, so nahm ich auf dem Balkon meine Papiere wieder vor. Die Mühe war nicht umsonst, denn ich entdeckte noch glücklicherweise einen wichtigen Fehler, der uns vielleicht beim Aufbringen in große Gefahr hätte bringen können. Die Zollscheine stimmen nicht mit den übrigen Dokumenten, weil sie nur über das verzollte Quantum ausgefertigt waren, welches nach westindischer Sitte (...) von weit wenigem war, als was die Ladung wirklich enthielt." (Averdieck 2012, S.323).
Der reibungslose Ablauf der Dokumentation der Fracht bei Ein- und Ausfuhr oblag dem Supercargo, eine Verantwortung, die Averdieck überaus ernst nahm. In der beiläufigen Bemerkung "nach westindischer Sitte" führt er uns hier in zeitgemäßer Abwertung in die Welt seines Reiseziels ein. Santo Domingo gehörte bis 1795 zum Vizekönigreich Neuspanien. Ab diesem Zeitraum stand es nominell unter französischer Oberhoheit, wurde aber de facto aufgrund der Französischen Revolution nie richtig in Besitz genommen. Im Jahr 1801 fiel es in den Einflussbereich François-Dominique Toussaint L'Ouvertures (1743-1803), einem ehemaligen Sklaven, der sich wechselnd der spanischen oder französischen Armee anschloss und Haiti im Jahr 1804 in die Unabhängigkeit führte. Averdieck spiegelt in seinem Reisebericht und Briefen eine politisch höchst unstabile Situation wider. Toussaints Anhänger verübten Rachefeldzüge an Sklaven- und Plantagenbesitzern. Eine kaum vorhandene übergeordnete Ordnungsinstanz führte zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Händlern vor Ort, unterschiedliche Gerüchte von Massakern verschärften die allgemeine Unruhe. Averdieck setzt dieser Situation ein Überlegenheitsgefühl entgegen, das ihn in seiner Wahrnehmung nicht nur von der farbigen Bevölkerung unterschied, sondern auch von den anwesenden anderen Europäern (Averdieck 2012, 319-320).
Die Kontrolle, die Averdieck über seine Papiere ausübte, drückt sich ebenso im Reiseschreibpult aus wie die große Sorgfalt, die er auf sein Erscheinungsbild legte. Beides definierten ihn in seinen Augen und boten ihm in der Begegnung mit einer durch ihn als lebensbedrohlich empfundenen Fremde Rückhalt, ein Muster, das sich nicht nur in der Beschreibung seines Aufenthalts in Haiti zeigt, sondern auch in der Schilderung der Rückfahrt nach Hamburg: Eine ansteckende Krankheit reduzierte die Mannschaft in so bedrohlichem Ausmaß, dass Averdieck schildert, wie er nun selbst auch Navigationsrouten berechnen und kontrollieren muss (Averdieck 2012, S. 327).
Das Reiseschreibpult macht uns deutlich, dass diese spezielle Reise von Hamburg nach Santo Domingo und zurück in dem unruhigen Jahr 1799 durch die Familie Averdiecks als ein Ereignis anerkannt wurde, das herausstach und neben der Dankbarkeit über das Überleben ihres Vorfahren auch seine Heldengeschichte konservierte. Daneben erzählt uns das Pult aber noch einiges mehr. So verweist es auf die Stabilisierungswirkung repetitiver Handlungen. Es weist aber auch auf den Zusammenhang zwischen globaler Mobilität und Standardisierung hin, wie es sich nicht nur in den Schriftstücken zeigte, die Averdieck hier aufbewahrte, sondern eben auch darin, dass er keine Mühe scheute, ein so modernes Exemplar einer handhabbaren Kopiermaschine mit auf eine weite Reise zu nehmen. Vom Reiseschreibpult zu unserem I-Pad sind es so betrachtet nur wenige Entwicklungsschritte, beschleunigt durch das innovationsfördernde Transiterlebnis einer transatlantischen Schiffspassage.
Anlässlich des Tags der Sekretärinnen und Sekretäre am letzten Mittwoch im April stellt Prof. Dr. Ruth Schilling das Schreibpult des Georg Friedrich Averdieck vor. Wenn auch keine Archivalie, so verdeutlicht dieses Reisemöbel doch den situativen Schrift- und Papiergebrauch Europas. Denn auf die Archivierung vieler Textdokumente, wie etwa Konzepte oder Notizen, die Aspekte unserer Kultur zeigen, wird bis heute weitgehend verzichtet.
Überblick zu den Archivalien des Monats
Archivalie des Monats: Schatz aus dem Archiv
Archivalie des Monats im Januar: Von New York nach Bremen 1859
Archivalie des Monats im Februar: Fotos vom Kleinen Kreuzer MEDUSA
Archivalie des Monats im März: James Cook im Südpolarmeer oder Die "Carte de l‘Hémisphère Austral"
Archivalie des Monats im April: Das Maschinenjournal des bremischen Eisbrechdampfers DONAR
Archivalie des Monats im Mai: Das Tagebuch der Caroline von Aschen
Archivalie des Monats Juni: Seefahrtsbuch der Heizerin Käthe Franck
Archivalie des Monats Juli: Radierung von Max Liebermann
Archivalie des Monats August: Generalplan der RAU IX
Archivalie des Monats Oktober: Speisekarte von Bord des Passagierdampfers BREMEN IV
Archivalie des Monats November: Bordtagebuch der ISABELL
Archivalie des Monats Dezember: Handzeichnungen von Themistokles von Eckenbrecher
Schreibpult von Georg Friedrich Averdieck (1774-1839) Credit: DSM / Archiv
Detailansicht in den Schreibpult.
Credit: DSM Archiv
Schreibpult geöffnet.
Credit: DSM Archiv
Stempel
Credit: DSM Archiv
Tintenfässer
Credit: DSM Archiv